Vom Ziehenlassen. Und der Liebe.

 

Wenn ich meinen Großen morgens an der Schule aus dem Auto steigen lasse und ihm nachblicke, wie er da hineinläuft in dieses Riesengebäude, schon das dritte Jahr, ich meine das DRITTE Jahr, dann überwältigen mich die Gefühle.

 

Wie, um alles in der Welt, konnte das so schnell gehen? Ich lasse ihn aussteigen und in dieses andere Leben hineintreten. In diesem Leben, in dem ich nur noch eine kleine Rolle spiele. In diesem Gebäude, das voller Ideen, Leute, Denkmechanismen und Eigendynamik steckt. Mit Erlebnissen, die ihn verletzen und solchen, die sein Herz formen werden und über die ich, als seine Mama, keinerlei Kontrolle habe. Ich lasse ihn aussteigen und seinen Weg gehen zu Erfahrungen, die er ohne mich machen wird, zu Wegen, die er allein gehen muss.

 

Es bräuchte ein Wort, das beschreibt, wie eine Mama sich fühlt, wenn sie ihren Großen in die Schule schickt. Ein Wort, das beschreibt, wie eine Mama sich fühlt, wenn sie ihr Kind das letzte Mal vom Kindergarten abholt und ihm förmlich dabei zusehen kann, wie er in einen jungen Mann heranwächst. Ein Wort, das beschreibt, wie eine Mama sich fühlt, wenn sie im Auto sitzt und darum betet, dass ihr Junge einen guten Tag haben wird. Dass er schöne Erlebnisse hat und niemand ihm weh tut. Dass seine Stärken gesehen und dass ihm jemand dabei hilft, dass seine Schwächen zu Stärken werden. Dass er Freunde findet, im Sportunterricht nicht der Letzte ist, der ausgewählt wird, dass er freundlich ist und fair. Sie sitzt in ihrem Auto und betet. Und sucht nach diesem einen Wort. Sie begreift, dass er langsam loslassen wird und sie es auch tun muss. Dass er bereit ist. Groß genug, seinen Weg zu gehen. Ihr Verstand begreift, aber ihr Herz kann es nicht greifen. Sie will nicht loslassen. Stattdessen ihren Jungen zurückholen und sagen, es war alles nur ein Missverständnis. Ich nehme dich wieder mit nach Hause und wir werden kuscheln und für immer und immer zusammen wohnen und du wirst für immer und immer mein kleiner Zwerg bleiben. Er ist bereit. Sie aber nicht.

 

Also sitzt sie in ihrem Auto und betet. Und erfährt all diese widersprüchlichen Gefühle von Angst und Vertrauen. Stolz und Hoffnung. Verlust. Und Liebe.
Sie weiß jetzt, was dieses Wort ist: Es ist Liebe. Mutterliebe.

 

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